Die unsichtbare Mutter von Finn sagte:
Das sichtbar-Machen ist deshalb so wichtig, weil es leichter fällt, etwas zu glauben, was man gesehen hat – man muss erkennen dürfen, was gewesen ist. Dies hat uns bis zu der Geburt unseres dritten Kindes gefehlt.
Sie erzählte: „Wenige Stunden vor der Geburt unseres dritten Kindes haben wir Birgit Berg kennen gelernt und ihr unsere Vorgeschichte erzählt. Daraufhin hat sie uns drei Herzen aus rot bemaltem Holz gegeben, jeweils eines für jedes Kind. In dem Moment haben wir zum ersten Mal vor Augen bekommen, dass wir ein drittes Mal ein Kind verloren haben. Die Zahl unserer Kinder war uns zum ersten Mal sichtbar gemacht und dadurch begreifbar geworden. In uns hatte sich etwas verändert. Nun war es ganz selbstverständlich, dass wir unser drittes Kind sehen wollen. Mit seiner Beerdigung konnten wir das Kommen und Gehen unserer Kinder auch unseren Verwandten sichtbar machen. Wir haben jetzt ein Grab, das wir so gestaltet haben, dass es der Erinnerungsort für unsere drei Sternenkinder ist.“
Der Verlust am Anfang des Lebens unterscheidet sich von anderen Verlusten. Es gibt meist keine Zeugen und die eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht macht die Menschen drumherum besonders unsicher. Ein Kind zu erwarten, verändert die Gedankenwelt. Eine neue Zukunft kommt ins Gefühl, etwas weist über einen selbst hinaus. Mit dem Wissen, schwanger zu sein, gibt es auf einmal die Zuständigkeit für ein kleines Wesen, das ganz und gar auf jemanden angewiesen ist. Wenn dann Gefahr droht, macht das besonders viel Angst.
- Stirbt ein Kind während der Schwangerschaft, bei oder kurz nach der Geburt liegen Begrüßung und Abschied nahe beieinander.
- Es gibt kaum Zeugen für das Dagewesensein des Kindes.
- Es gibt keine oder kaum Erinnerungen an ein gemeinsames Leben.
- Dieser Tod passt nicht in die Ordnung der Welt.
- Wir erwarten, dass Kinder die Eltern überleben.
- Mütter/Väter und Kind sind traumatisiert.
- Mütter/Väter sind wie betäubt, unter Schock, traurig, aggressiv, panisch, überfordert, fordernd, reizbar, beleidigend, desorientiert, wie neben sich.
- Ausgeprägte Trauer wechselt in Wut, Aggression oder scheinbare Teilnahmslosigkeit.
- Mütter/Väter erleben eine extreme psychische Belastung, für die sie keine geeignete Bewältigungsstrategie kennen.
- Dies alles ist zunächst eine normale Reaktion der menschlichen Psyche auf eine außergewöhnliche Erfahrung.
Unsichtbare Eltern und ihre Geschichten
Nicole für Emma
„ich bin unendlich dankbar für meine beiden Söhne. Doch die Frage „Haben Sie Kinder?“ – oder „Wie viele Kinder haben Sie denn?“, löst immer wieder viele Gefühle und Gedanken aus. Kurz darauf antworten kann ich kaum. Denn als unsere Tochter Emma 2011 zu uns kam, kam sie in der 28. Schwangerschaftswoche lebend zur Welt, aber sie starb wegen schwerer gesundheitlicher Probleme nach sechs Stunden. Wenn ich z. B. in den Gedenkgottesdiensten von Emma erzählen kann, bedeutet das mir und meiner Familie sehr viel. In dieser schweren Zeit habe ich Linda, die unsichtbare Mutter von Clara kennengelernt. Es ist, als hätten unsere Töchter uns beide zusammengebracht.
In all den Erfahrungen fühle ich mich mit den anderen unsichtbaren Eltern verbunden, egal wie lange der Verlust schon besteht und ob es lebende Geschwisterkinder gibt oder nicht.“
Sonja und Stefan für Birla
“2016 erwarteten wir unser erstes Kind. Bei den Untersuchungen war immer alles bestens und dann stand plötzlich alles Kopf, als sich bei einer Vorsorge ein dramatischer Befund zeigte. Eine „infauste Prognose“ für unsere Tochter Birla, auf die wir uns so gefreut hatten. Aus Sicht der Pränatalmediziner schien der Weg klar: ein Abbruch der Schwangerschaft, am besten gleich morgen. Als ginge es darum, das „Desaster“ so schnell wie möglich zu beenden. Die Schwangerschaft abzubrechen, als wäre sie ein Druckauftrag. Wir hätten uns gewünscht, dass uns gleich von Anfang an auch andere Wege eröffnet worden wären. Es ging schließlich um unsere Tochter, die allen Diagnosen zum Trotz, sehr lebendig im Bauch strampelte. Schwere Entscheidungen mussten getroffen werden. Birla starb und die Welt drehte sich einfach weiter.
Als wir im folgenden Jahr ein lebendiges Kind bekamen, begegneten uns viele, als sei jetzt wieder „alles gut“. Doch nach solch einer Erfahrung wird nicht mehr „alles gut“. Aber wir haben damit leben gelernt und unsere Tochter mit auf unseren Lebensweg genommen.“
Andreas für Erik und Paul
„Im September 2014 kamen unsere Zwillinge Erik und Paul viel zu früh auf die Welt. Wir waren überrumpelt und überfordert, genauso wie sie, trotzdem hatten wir Hoffnung. In der Zeit geschah so viel. Ich lebte wie in einer Parallelwelt zwischen Krankenhaus, Arbeit und Wohnung. Niemals hätte ich gedacht, dass ich das Erlebte aushalten und dabei agieren könne. Ich habe funktioniert und gefühlt den Kampf überlebt. Wir hatten so viele Situationen gemeistert, vieles ist in die Brüche gegangen und am Ende hatten wir mit Erik 45 Tage und mit Paul 55 Tage, ehe sie uns verließen. Jede Sekunde war kostbar.
Daran, dass meine beiden Söhne nicht mehr leben, habe ich mich irgendwie gewöhnt. Aber wie gehe ich mit diesem Teil meiner Geschichte um, wenn jemand neu in mein Leben tritt?“
Lasses Eltern für ihren Sohn
„Auch wir wurden konfrontiert mit einer schweren Diagnose. Plötzlich sprachen Ärzte mit uns über unseren Sohn, als ginge es darum, ein Auto zu reparieren, als wäre alles machbar. Von jetzt auf gleich wurden wir überrollt von einer intensiven Liebe zu unserem Kind. Und gleichzeitig war diese Liebe nicht mehr ohne die tiefste Verzweiflung zu haben. Der Kopf, das Herz, der Körper – immer wieder schienen sie mir nach dem Tod von Lasse den Dienst zu verweigern. Immer wieder fühlte es sich fast unmöglich an, den Familienalltag, den Berufsalltag, die Ehe, die Freundschaften und Bekanntschaften am Leben zu erhalten. Immer wieder haben Angst und Wut, Sehnsucht und Schmerz so viel Kraft abgesaugt. Fast lähmend war die Angst, nun immer mehr zu verlieren. Mit der Zeit hat sich das verändert. Der Boden schwankt seltener.
Mir hilft es, in einem Kreis von Menschen zu sein, die mich ohne große Erklärungen verstehen. Hier fühle ich mich nicht komisch, ich habe nur sehr viel Trauriges und Merkwürdiges erlebt. In unseren Gesprächen kommen wir immer wieder dahin, dass es die Liebe ist, die heilt, nicht die Zeit. Menschen zu begegnen, die wissen, dass die Liebe niemals aufhört, dafür bin ich dankbar. Dann kann ich auch aushalten, wenn der Boden mal wieder schwankt.“
Linda für Clara
„Als unsere Tochter 2011 zu uns kam, hatte sie Besonderheiten, mit denen sie nicht mit uns ins Leben gehen konnte. Seit ihrem Tod ist das Leben einfach weiter gegangen, obwohl ich das damals nie für möglich gehalten habe. Mein Mann Benedikt hatte mich damals beharrlich ermutigt, zu dem Treffen im Raum der Stille mit den anderen unsichtbaren Eltern zu gehen. Danach wollte ich einfach nur schnell nach Hause, in meine sichere Höhle. Beim Verlassen der Klinik, waren die Ausgänge verschlossen und beim Suchen einer offenen Tür lief ich geradewegs in Nicoles Arme. Im Nachhinein war diese Begegnung wie ein Geschenk von unseren beiden Töchtern Emma und Clara. Als hätten die beiden uns gegenseitig einen Herzens-Menschen geschenkt. Ich bekam eine Herzens-Freundin an die Seite, die mir trotz oder wegen ihrer eigenen Trauer die fehlende Kraft gab, meine Folgeschwangerschaft zu meistern. Sie hörte mir zu und verstand mich, das gab mir Kraft. Wir haben inzwischen zweimal Familienzuwachs bekommen. Und wir sind unendlich dankbar für unsere drei Kinder.“
Tanja für Erik & Paul
“Dieses „Unsichtbar sein“ ist eine große Last. Ich bin Zwillingsmutter, das ist manchmal so unwirklich und dennoch ist es die Wahrheit. Da drückt dieses Unsichtbarsein genau das aus, was alles zusätzlich schwer macht. Meine Söhne Erik und Paul kamen im September 2014 plötzlich und viel zu früh auf die Welt. Sie waren noch nicht so weit, nur auf Zehenspitzen angekommen. Erik blieb 6 Wochen + 3 Tage, Paul 10 Tage länger. Ich konnte nichts tun. Diese Zeit und auch danach war völlig unwirklich. Die Welt ging einfach weiter, die Busse fuhren, Tagesschau wie immer… als wäre nichts geschehen.
Jemand meinte, „die Zeit heilt alle Wunden“, doch das stimmt einfach nicht. Natürlich haben die Jahre mich verändert, doch der Schmerz ist manches Mal sehr nah, dafür war der Verlust und Schock viel zu groß.“
Unsichtbare Eltern für Svea und ihre drei Sternengeschwister
„Wir haben unsere Tochter und unsere drei Sternenkinder in der Schwangerschaft verloren. Über den Gedanken, dass unsere Kinder für niemanden außerhalb sichtbar geworden sind, fanden wir den Namen Unsichtbare Eltern. Wir sind unsichtbare Eltern von Svea und unseren drei Sternenkindern. Und wir sind sichtbare Eltern von unserem Sohn. Die Kinder, die wir verloren haben, haben ihre Spuren hinterlassen und sind auf dem weiteren Lebensweg dabei. Für besondere Familientage haben wir Rituale entwickelt, die unsere unsichtbaren Kinder miteinschließen.“
Alina und Askim für Ben
„Ben kam im Oktober 2020 in der 23. SSW tot zur Welt. Als uns irgendwann klar wurde, dass wir unseren Sohn Ben verabschieden müssen, hatten wir keinen Boden mehr unter den Füßen. Wir haben uns beide so auf ihn gefreut, er war unser langersehntes Kind. Doch die Pränataluntersuchung brachte plötzlich niederschmetternde Befunde. Unser Ben war ganz schwer krank. Sein Herz war nicht in Ordnung und es wurden diverse Syndrome festgestellt, deren Namen wir nicht mal annähernd verstanden haben. Wir waren zerrissen, unendlich traurig und völlig fassungslos. Eine ständige Achterbahn der Gefühle begleitete uns. Wir haben uns noch nie so ohnmächtig und verzweifelt gefühlt. Wir gingen durch einen unendlich schweren Prozess, bis wir ahnten, dass es keine richtige oder falsche Entscheidung gibt. Ganz wichtig war es für uns, auch die sogenannten medizinischen Bilder direkt nach seiner Geburt anzuschauen. Ich war aufgeregt und hatte Angst, aber dann war mein Herz so voller Liebe, vor allem sah ich einfach nur unseren Kleinen, unseren Ben. Und dann sah ich auch, so hätte er ganz sicher nicht leben können. Aber ihn herzugeben, war das Schlimmste.
Besonders geholfen hat uns der Satz, dass wir nun unsichtbare Eltern sind und uns mental in einem neuen Raum einrichten werden, in dem Ben einen Platz bekommt. Er ist nun Teil unseres Lebens. In meiner Umgebung wird nicht unbedingt verstanden, wie nahe ich inzwischen meinen Sohn bei mir spüre. Immer und überall. Ich fühle die Liebe zu ihm, denn er hat seinen Platz in meinem und unseren Herzen voll eingenommen.“
Mandy für Hugo und Theo
„Unsere Zwillinge wurden im Februar 2011 in der 23. Schwangerschaftswoche geboren. Unser Hugo kam tot zur Welt und Theo hat zwei Tage gekämpft. Er hat den Kampf nicht gewonnen. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit können wir genauso nicht in Worte fassen, wie die Trauer.
Dieses Jahr wird es unser zehntes Weinachtsfest sein, ohne unsere Kinder. Wie bei vielen Familien, ist auch Weihnachten, bei uns „DAS“ Fest der Familie. Wir verbringen jedes Jahr die Feiertage mit der gesamten Familie, bei meinen Eltern in Mecklenburg / Vorpommern. Dort sind auch unsere Kinder Hugo und Theo auf dem kleinen Dorffriedhof beerdigt worden. Es ist zu einer wunderschönen Tradition geworden, dass zu Weihnachten die Zwei einen Platz am Weihnachtsbaum bekommen. In Form von zwei Weihnachtskugeln mit ihrem Namenszug und einem Schneemann drauf. Wie auf den Bildern zu sehen. So sind sie für uns alle in dieser Zeit sichtbar. Es ist ein wunderschönes Gefühl für uns, unsere Kinder im Kreise der Familie so dabei zu haben und auch zu wissen, sie sind Teil dieser Familie. Am 1. Feiertag besuchen wir alle das Grab von unseren Sternchen und es gibt ein kleines Stück Schokolade von meinen Nichten für unsere Jungs. Diese Geste berührt unser Herz jedesmal aufs Neue und wir wissen, unsere Kinder sind tief in unserer Familie verwurzelt.“
Grit für Paula
„Im Dezember 2008 war ich bereits seit einer Woche im Krankenhaus. Leichte Blutungen, die beobachtet werden sollten. Alles war gut. Von jetzt auf gleich änderte sich alles. Unsere Paula musste in der 22. Schwangerschaftswoche per Notkaiserschnitt geholt werden, um mein Leben zu retten. Die Blutungen wurden in kürzester Zeit lebensbedrohlich für mich. Die tapfere Kleine hat 3,5 Stunden gekämpft, gewartet bis wir bei ihr sein konnten und ist dann ganz ruhig eingeschlafen. Zuerst unter Schock, doch dann einen Tag später habe ich es begriffen: Paula ist nicht mehr da. Dies traf mich beim morgendlichen Aufwachen. Durch die Narkose und die chaotischen Umstände wusste ich nicht, wie sie ausgesehen hat. Wir riefen um Hilfe. Unsere Hilfe kam in Form der Krankenhausseelsorgerin Birgit Berg. Ganz sanft und liebevoll hat sie uns an die Hand genommen und ist die heute so wichtigen Schritte mit uns gemeinsam gegangen. Wir durften Paula bei uns haben, durften ihr ihren Namen geben, haben unersetzliche Fotos mit ihr gemacht. Birgit war dabei und hat uns die Angst genommen. Sie hat uns den Raum gelassen, den wir gebraucht haben, uns dabei aber immer alle Möglichkeiten angeboten. Gemeinsam mit Birgit haben wir Paula in der Friedhofskapelle in ihren kleinen Sarg eingebettet. Kuscheltiere aus unserer Kindheit und „Abschiedsbriefe“ gaben wir mit in den Sarg. Ich konnte sie noch ein letztes Mal auf dem Arm halten. Sie war so leicht. Von der Trauerfeier sind nur Bruchstücke in meiner Erinnerung. Aber diese Bruchstücke trage ich ganz fest in mir. Am intensivsten ist der Weg zum Grab in meinem Herzen verankert. Mein Mann, Paula’s Papa, trug ihren kleinen weißen Sarg bis zum Grab. Noch heute bin ich dankbar – für unseren gemeinsamen Weg der Trauer als Eltern – dies hat uns enger zusammengeschweißt, für Birgit – ohne die wir ganz viele wichtige Schritte nicht gegangen wären und für das einfühlsame Personal im Krankenhaus – dies ist im hektischen Krankenhausalltag nicht selbstverständlich. Und ich danke meiner kleinen Tochter, durch deren Geburt ich stärker werden durfte. Deine beiden Brüder, dein Papa und ich tragen Dich ganz fest in unseren Herzen.“
Unsichtbare Eltern für Stella Marie – gestorben und geboren
Stella Marie ist in der 23. Schwangerschaftswoche im Mutterleib verstorben. Alle vorangegangenen Untersuchungen waren positiv verlaufen, ein jähes Ende wurde wirklich nicht mehr erwartet und beide waren erfüllt von guter Hoffnung.
Trotzdem sprachen die Eltern von einem Wirrwarr der Gefühle aus Trauer und Glück. Aber - wieso Glück? Ihre Tochter wurde trotz allem auf natürlichem Wege „still“ geboren und beide waren, auch wenn sie es sich anfangs kaum zugetraut hatten, aktiv gestaltend dabei. Sie hielten ihre Tochter Stella Marie im Arm, küssten sie und kosteten dabei jede gemeinsame Sekunde aus und machten Bilder.
Für beide wurde der Weg Stella Marie zu begleiten zu einer kostbaren Lebenserfahrung. Es war vorher kaum vorstellbar, dass ein so kleines Wesen trotz der Umstände schön und vollständig sein kann, wie kein Foto es zu zeigen vermag. Tief berührt und erleichtert waren beide wie unbeschreiblich friedlich und entspannt ihre Stella Marie aussah. „Unsere Tochter ist in Frieden gestorben und geboren und hat uns diesen Frieden als Geschenk mit auf den Weg gegeben."
„Wir sind überglücklich, dass du zu uns gekommen
und in unseren Herzen eingezogen bist.
Mache es dir dort so behaglich, wie es nur irgend geht.“